Der Markenexperte über Cultural Hacking

Klaas Kramer schreibt auf dem Kommunikationsblog über Markentechnik und Cultural Hacking:

„Sind Sie denn wahnsinnig, Herr Kramer? Sie fordern dazu auf, die Marke zu hacken? Das ist ja brandgefährlich! Man muss die Brand Manager vor Ihnen warnen. Sie könnten ja Markensubstanzen zerstören, die wir über Jahrzehnte aufgebaut haben. Um Himmels Willen!“ So ähnlich könnte der Einwand eines Markentechnikers lauten, der sich der Einhaltung einmal definierter Markenattribute und deren Materialisierung verschrieben hat.

Stehen Brand Hacking und Markentechnik wirklich im Widerspruch zueinander?
Zugegeben, begrifflich könnte beides nicht weiter auseinander liegen: Sorgsame ingenieursgleiche Wertarbeit auf der einen Seite, subversive chaospolitische Manipulation auf der anderen Seite. Als Konvergenzpunkt zwischen Analytik und Kreativität gebe ich mit ruhiger Hand Entwarnung. Brand Hacking ist zunächst einmal ein Perspektivwechsel. Anstatt Abweichungen zu nivellieren, werden sie ausgeleuchtet. Hacking legt frei, was ohnehin schon unter der Oberfläche liegt.

Brand Hacking Analogie
Wenn Marken einem Hacking unterzogen werden, ist das vergleichbar mit dem Prüfstand für einen Fahrzeugmotor: ein Test unter extremer Belastung, hohen und niedrigen Temperaturen sowie in allen Lagepositionen. Ist die Marke stark genug, hält sie Störungen stand. Sollbruchstellen werden frühzeitig erkannt, um Detailverbesserungen vorzunehmen. Natürlich muss bei diesem Vergleich mehreres im übertragenen Sinne gedacht werden: Motoren, Treib- und Schmierstoff sind Materie und der Prüfstand überwacht physikalische Größen. Marken sind immateriell und können nur über deren Materialisierungen beobachtet, ausgemessen und verändert werden. Worauf es tatsächlich ankommt, das bleibt oft im Verborgenen. Hacking kann solchen verborgenen Erfolgstreibern am ehesten auf die Spur kommen. Hacking ist damit eine kulturelle Arbeit (Cultural Hacking) und bewegt sich im Wechselspiel zwischen Kunst und Soziales.

Machen Sie‘s nicht wie der Vogel Strauß!
So sehr der Ansatz des Brand Hacking fasziniert, so sehr löst er auch Bedenken oder gar Ängste aus. Wegschauen hilft nicht: Marken können nicht nicht manipuliert werden. Jede Markenkommunikation ist ein Akt des Hacking, denn die Marke ist kein in sich ruhendes Etwas, das objektiv für jeden Beobachter das Gleiche darstellt. Eine Marke ist immateriell. Sie ist die „Summe“ aller Vorurteile, Ideen, Gedanken und Gefühle, die Menschen mit ihr verbinden. „Summe“ steht deshalb in Anführungszeichen, weil sich Geistiges nicht einfach mathematisch addieren lässt.

Fenster auf im Materialkunde-Kabinett!
Zeichen, Worte, Stoffe, Gerüche – all das sind Materialisierungen der Marke: Das Aufschreiben von Attributen in ein Markenmodell, der Einsatz eines Testimonials in einem Werbefilm, das Aufstellen eines Displays im Supermarkt, ein Tweet bei Twitter – ja, auch Pixel auf dem Display sind Materialisierungen. Die Handhabungen der Materialisierungen, also jede absichtsvolle Intervention auf die Marke, kann als Hacking gelesen werden. Nur bezieht sich dieses Hacking nur oberflächlich betrachtet auf das Material (Zeichen, Worte, Filme, absurde Brand Extensions). Tatsächlich wird der kulturelle Bezug gehackt, den ein Beobachter zu den Objekten herstellt – jener immaterielle Bereich, in dem sich die Marke manifestiert, irritiert oder gar verflüchtigt. Das Management des Immateriellen ist eben keine Technik. Technik ist per pefinitionem Materialkunde.

Markentechniker sind auch Brand Hacker
Auch Markentechniker sind Brand Hacker. Nur nennen sie sich nicht so. Tritt ein Markentechniker an ein ein Unternehmen heran, das diffus kommuniziert und deren Akteure selbst kein klares Bild von den Erfolgstreibern haben, welche beim Kunden Sogkraft und Vertrauen erzeugen, so ist er der Ur-Brand-Hacker für dieses Unternehmen. Idealerweise ist er ein Coach, der durch zirkuläres Fragen eben jene Unterschied-machenden Stärken herausdestilliert, dem gewissen Etwas auf die Spur kommt, das Kunden bei ihrem brennenden Problem anspricht und besser als der Wettbewerb auf ein ganz bestimmtes konstantes Grundbedürfnis abstellt. Damit hackt der Markentechniker das soziale System des Unternehmens. Er ist ein Störenfried, der durch seine Interventionen eine Selbstreflexion anregt, die im Tagesgeschäft nicht zugelassen wird. Wird diese Selbstreflexion durch den Markentechniker geschickt geführt, dann deckt er – ganz im Sinne von Hacking – Potenziale auf, die Grundlage für eine Marke sein können. Freilich wird erst durch Festlegungen, abstrakte (Markenmodellierungen) und konkrete Markenbeschreibungen (Brand Design) eine Marke als solches fassbar – zunächst für das beteiligte Management, später für die Mitarbeiter und letztlich für die Marktteilnehmer. Diese ursächliche Markenbeschreibung ist eine Störung in der Vorstellungswelt der beteiligten Beobachter: Hacking.

Hacking versteht verteilte Macht
Sobald eine Marke an Relevanz gewonnen hat – und nur dann kann der Markenaufbau als Erfolg bezeichnet werden – fertigen auch weitgehend unkontrollierbare Akteure gnadenlos konkrete Markenbeschreibungen an – Menschen, die sich nicht an die Brand Guidelines halten wollen oder können. Ein souveränes Markenmanagement ist daran zu erkennen, dass es sich dieses Potenzial ins Haus holt. Durch Ignorieren oder Totschweigen macht man die „Abweichler“ im Zeitalter von Social Media nicht etwa mundtot, sondern provoziert sie. Die Marke wird zum Angriffsobjekt, weil sie sich demonstrativ gegen eine kritische Masse stellt. „Kritische Masse“ darf gern im doppelten Sinne verstanden werden: kritisch gegenüber der Marke und kritisch als relevante Menge, die den Tipping Point erreicht hat.

Hacking entspannt
Das Verhältnis zwischen Markentechnik und Brand Hacking spitzt sich hier zu: aus der einen Perspektive betrachtet sind Abweichungen vom Markenkern ein Ausschlag auf dem Risiko-Detektor, aus der anderen Perspektive sind sie eine willkommene Erkenntnis, ein Fortschritt auf dem Weg zu einem immer tiefgreifenderen Verständnis von der Marke. Das eine ist eine tendenziell verkrampfte, das andere ist souveräne Markenführung. Je mehr sich Markenmanager und Markenberater auf Brand Hacking verstehen, desto wirksamer können sie Einfluss nehmen, was im Markt mit der Marke geschieht. Idealerweise ist der Brand Manager der Chef-Brand-Hacker. Ist er es nämlich nicht, dann ist es jemand anderes im Markt: eine Agentur, ein Konsumguerillo oder eine Community, die so gar nicht als Zielgruppe gedacht war, so genannte Brand Hijacker.

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